Hotel, nicht Heimat: Wie libanesische Jugendliche ihr Land sehen

Ein Gastbeitrag von Raphael Schanz, Büro Beirut

"Dear Lebanon" (c) Raphael Schanz
„Dear Lebanon“ (c) Raphael Schanz

Kaum eine Straßenecke in Beirut ist frei von religiösen oder politischen Symbolen und Fahnen. Dabei hat der Wahlkampf für die Parlamentswahlen, die im November 2014 stattfinden sollen, noch gar nicht begonnen. Erst im Februar konnte eine Regierung gebildet werden – nach fast einem Jahr Blockade. Und viele Libanesen meinen jetzt, ohne Regierung wäre es sogar besser gewesen. Die Zerissenheit des Landes wird durch die Auswirkungen des syrischen Bürgerkriegs und die dramatische Flüchtlingssituation mit fast einer Million SyrerInnen im Lande noch verstärkt. Beinahe wöchentlich finden Bombenanschläge statt. Gerade dieses Wochenende gab es in einem zentralen Stadtviertel Auseinandersetzungen, bei denen so schweres Geschütz aufgefahren wurde, dass man es noch am anderen Ende der Stadt hörte. Die Gesellschaft ist tief gespalten entlang konfessioneller Bruchlinien, und es kommt zu immer größeren sozialen Spannungen. Religion und Politik sind eng miteinander verknüpft und bestimmen den Alltag vieler LibanesInnen.

Wie sehen Jugendliche in einer solch instabilen Situation ihrer Zukunft entgegen? Während meines zweimonatigen Aufenthalts in Beirut habe ich viele junge LibanesInnen kennengelernt, die mit den Problemen ihrer Elterngeneration nichts zu tun haben möchten. Ich habe mich mit einer Gruppe von acht Teenagern über ihre ambivalente Liebe zum Heimatland ausgetauscht und mit ihnen gemeinsam den Film „Dear Lebanon“ gedreht.

Eine neue Generation wächst heran, die sich kaum etwas mehr wünscht als in Frieden aufzuwachsen – und oft in erster Linie an eines denkt: ihr Heimatland zu verlassen. Massenhaft wandern sie aus: USA, Kanada, die Golfstaaten, Europa. „Der Libanon ist für mich eher ein Hotel als ein Zuhause. Eine vorübergehende Station, und ich habe meine Koffer schon gepackt“, sagt die 15-jährige Naye. „Es beunruhigt mich, wenn junge Leute das Land verlassen, weil sie sich hier nicht mehr zugehörig fühlen“, sagt Ziyad Baroud, ehemaliger libanesischer Innenminister und einer der wenigen Politiker, von denen sich die Jugendlichen verstanden fühlen, im Interview. Sie finden sich im aktuellen sozialen und politischen System nicht wieder, sehen sich von den politischen Entscheidungsträgern nicht repräsentiert. Die Anschläge sind nicht ihre Anschläge. Die Konflikte nicht ihre Konflikte.

Wenn sie neue Leute kennenlernen, erzählen mir die Jugendlichen, fragen sie nicht nach der Religionszugehörigkeit. Die Freund-Feind-Denkmuster ihrer Eltern-Generation teilen sie nicht. Und über die Politiker im Fernsehen könnten sie höchstens lachen, aber sie nicht erstnehmen. Sie zeigen mir ein Youtube-Video, in dem zwei Politiker in einer Talkshow handgreiflich werden. Ich lache mit, frage aber auch: Wie lange kann es in einem Land gut gehen, wenn die Jugend nicht mehr an ihre Demokratie glaubt?

Rapahel Schanz (Mitte) mit zweien der Teenager
Rapahel Schanz (Mitte) mit zweien der Teenager

„Die Erwachsenen sehen die Zukunft des Libanons nicht in uns, und wir selbst auch nicht“, sagt der 15-Jährige Marwan, „es ist unglaublich schwierig, wirklich etwas zu verändern. Was können ein paar Teenager schon tun?“ Doch sie wollen ihr Land nicht aufgeben und wehren sich dagegen, der schleichenden Zerstörung untätig zuzusehen.  „Als ein Freund von mir bei einem Bombenanschlag starb, habe ich begriffen, dass es nicht normal ist, wenn jeden Tag eine Bombe hochgeht“, sagt die 17-jährige Ghida, „wir werden das nicht länger hinnehmen und was dagegen unternehmen“. Was, bleibt allerdings offen. „Wenn man Wandel will, reicht es nicht, eine Facebook-Seite mit dem Titel ‚Wandel‘ ins Leben zu rufen“ sagt der beliebte Stand-Up Comedian Nemr Abu Nassar in dem Film. Während im Libanon Twitter-Kampagnen und Apps zu allen möglichen Themen außerordentlich erfolgreich sind, ist es gerade hier schwierig, Leute zu mobilisieren, für etwas tatsächlich auf die Straße zu gehen.

Raphael Schanz, Stipendiat der Heinrich Böll Stiftung, hat während seines zweimonatigen Praktikums bei der Heinrich Böll Stiftung in Beirut ein Filmprojekt mit acht libanesischen Jugendlichen durchgeführt. Der komplette Film „Dear Lebanon“ (30 min/englisch) ist online unter https://www.youtube.com/watch?v=FzhpEafcOgY  abrufbar, eine kurze Vorschau hier.