#Russia_kills_the_rest_of_us

Protest vor der russischen Botschaft in Beirut (c) Alisha Molter
Protest vor der russischen Botschaft in Beirut (c) Alisha Molter

Ein Gastbeitrag von Alisha Molter

„Nimm sie lieber nicht mit“, bittet mein Freund unseren Mitbewohner. Ich gehe trotzdem hin.

Es ist Dienstagabend in Beirut, die Sonne verschwindet langsam hinter den Häusern. Nach der Arbeit eile ich nach Hause, schnappe mir meinen syrischen Mitbewohner und mache mich auf den Weg zur russischen Botschaft. Dort soll heute eine Demo gegen die am 30. September begonnene russische Militärintervention in Syrien stattfinden.

Unter dem Hashtag #Russia_kills_the_rest_of_us haben verschiedene zivilgesellschaftliche Gruppen und Unterstützer der syrischen Revolution zu einem Protest vor der russischen Vertretung aufgerufen. In der Ankündigung steht “everyone has the same boring excuse: fighting terrorism.“ Das sehe ich ähnlich. Und mache mich auf den Weg.

Die Botschaft liegt in Mar Elias, nicht weit von unserer Wohnung. Wir laufen. Auf dem Weg frage ich mich, wie viele wohl kommen werden, um mit uns zu demonstrieren. Im Libanon leben mittlerweile rund 2 Millionen Syrer, viele von ihnen sind Gegner des Assadregimes. Auf der Facebookseite des Events haben rund 330 Menschen zugesagt, fast 60 haben mit „vielleicht“ auf die Einladung geantwortet.

Doch die Realität ist ernüchternd. Auf dem Bürgersteig vor der Botschaft stehen knapp 20 Menschen mit Transparenten. Der Anblick ist fast surreal. Es ist kaum Platz auf dem schmalen Bürgersteig vor der Botschaft, die gleich an einer vierspurigen und vielbefahrenen Straße liegt. Mehr Demonstranten würden gar nicht hinpassen.

Die Menschen stehen in zwei Reihen hinter einer langen grün-weiß-schwarzen Flagge- den Farben der Nation vor der Machtergreifung der Baathpartei und dem Symbol der Revolution von 2011. Zunächst zögere ich, dann gesellen wir uns zu der kleinen Gruppe. Auffällig viele der Demonstranten sind weiblich. Neben mir steht eine zierliche junge Frau, mit weiß-rosafarbenen Kopftuch und buntem T-shirt. Ihr Gesicht ist freundlich, sie lächelt mich an. Wir kommen ins Gespräch.

„Was denkst du, wieso sind nicht mehr Syrer hier?“ frage ich meine Nachbarin. „Die Menschen haben Angst“, antwortet sie. „Viele haben noch Familie in Syrien und sie wollen sich nicht öffentlich äußern, weil sie befürchten, dass ihre Familien bedroht werden könnten.“ Ich verstehe sie. Denn selbst ich als Europaerin habe ein mulmiges Gefühl, wenn sich die Fernsehkameras auf mich richten, und die Fotoapparate klicken. Ich fühle mich wie bei einem Shooting für ein Klassenfoto- oder besser wie ein Fußballteam nach einem Spiel. Die Reihe wird abgeblitzt und abgefilmt – oder man kriegt gleich ein Mikrofon vor die Nase gehalten.

Eine Frau, ebenfalls in meinem Alter, schaltet sich ein und bestätigt meine Bedenken: „Die haben ihre Spitzel hier und merken sich wer da ist.“ Mit ‚die‘ meint sie das Regime in Damaskus und seine Verbündeten, wie etwa die libanesische Hisbollah, die das Assadregime aktiv mit Kämpfern und Waffen unterstützt. Ihre Leute sitzen auch in offiziellen Staatsorganen wie etwa der Polizei, die uns hier vor der Botschaft gerade schützt – oder umlagert?

In jedem Fall sind weitaus mehr Polizisten anwesend als Demonstranten. Ich gucke sie mir genauer an, die Sicherheitskräfte, die Kameramänner, und jene die einfach nur „gucken kommen“. Von weitem. Ein Polizeibeamter macht Fotos mit dem Handy. Aus Sensationslust oder doch mit einem anderen Anliegen? Die junge Aktivistin neben mir drückt mir ein Plakat in die Hand: „Tschetschenien, Georgien, Ukraine, Syrien – Russlands Verbrechen hören nicht auf“, steht da auf Englisch, Arabisch und Russisch. Ich halte es vor mich, wie ein Schutzschild gegen die Kameras. Dann rückt sie ihr blaues Kopftuch zurecht, setzt ihre coole Sonnenbrille auf und geht unerschrocken nach vorne, in die erste Reihe.

„We want to leave, Putin must leave“, ruft ein junger bärtiger Mann vor mir immer wieder durch ein Mikrofon. „Du musst ihm erklären, dass es ‚we want to live‘ heißt“, sage ich meinem Mitbewohner. Mit der syrischen Flagge vor Nase und Mund gebunden, könnte er optisch in Konkurrenz zu einem Western-Helden treten. Er leitet es an den Bärtigen weiter. „Kannst du es sagen?“ fragt mich der Typ mit dem Bart und dem Mikro verunsichert. Ich schüttele den Kopf. Das geht nun wirklich nicht, finde ich. „Das musst du machen, von mir wirkt das komisch. Es ist doch dein Land.“ Dann ergreift die Frau mit dem weiß-rosafarbenen Kopftuch das Mikro. Auf Arabisch ruft sie: „Kein Assad, kein Daesh, wir wollen Freiheit“. Der Sprechchor antwortet ihr dröhnend und wütend.

Die meisten hier haben Angehörige verloren. Einige davon sind in Assads Gefängnissen ermordet worden. So auch der Ehemann einer Bekannten, oder der Vater des jungen Mannes mit dem Bart. „Vielen Dank, dass du gekommen bist“, sagt er immer wieder. Ich bin die einzige Europaerin hier. Alle anderen sind Exilanten. Sie mussten ihre Heimat verlassen. Es eint sie die Wut gegen das Regime – und das Heimweh. Als sie alle zusammen die Revolutionsversion von „Sourriya ya habibati“ (Syrien, meine Geliebte) anstimmen, spüre ich die Traurigkeit in den Worten und der Stimme meines Mitbewohners.

Nach einer Stunde löst sich die Veranstaltung auf, aber das mulmige Gefühl bleibt. Einige Kinder falten DinA4 Transparente zu Papierfliegern und lassen sie über den Stacheldrahtzaun der Botschaft fliegen. Wir werden von Sicherheitskräften zum Auto begleitet.

Neben uns betritt ein Hisbollah-Anhänger einen Kiosk, das Gewehr geschultert. Sein grünes Halstuch, in der Symbolfarbe der Schiiten, weht im Wind. Mir ist das alles nicht ganz geheuer. Tief in mir merke ich, dass es das Letzte ist, was wir tun sollten und dennoch drehe ich mich zu meinem Mitbewohner und frage: „Sollen wir rennen?“

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Alisha Molter
Alisha Molter

Alisha Molter hat einen Master in „International and European Governance“ (WWU Muenster) und „Management des institutions culturelles“ (Sciences Po Lille). Nach einem Praktikum im Nahost-Büro Beirut der Heinrich-Böll-Stiftung unterstützt sie seit Mai 2015 das Büro Beirut als Beraterin.


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