Von Beginn des Aufstandes gegen Präsident Assad an war Israels oberste Devise: Wir werden uns nicht einmischen. Auch wenn es unter Bashar Assads Zeit auf dem Golan weitgehend ruhig war, wollte sich Israel nicht eindeutig auf die Seite Assads und gegen die Bestrebungen der Opposition stellen. Israel kam auch zum dem Schluss, dass jegliche Parteinahme für die syrischen Aufständischen genau diesen schaden würde.
Diese Devise gilt auch weiterhin. Israel hat kein Interesse, eine Partei im Krieg in Syrien zu werden. Das Leid der Zivilbevölkerung, einschließlich der Flüchtlinge in- und außerhalb Syriens, lässt Israel nicht kalt und die Bürde der Nachbarländer sind seinen Politiker/innen bewusst. Seine Hände sind jedoch politisch gebunden. Allerdings hilft Israel verwundeten Flüchtlingen, die in Krankenhäusern im Norden des Landes versorgt werden, falls sie den Golan erreichen.
Doch Israels eigene Sicherheitslage hat sich in den vergangenen Wochen dramatisch verändert: Hisbollah kämpft nun offen an der Seite Assads gegen die Aufständischen und hat somit seinen Aktionsradius auf Syrien ausgedehnt. Dies erleichtert den Hisbollah-Milizen auch den Zugang zu fortgeschrittenen Waffensystemen aus dem Iran, wie die Fateh-110-Raketen. Mit ihrer Reichweite von 300 Kilometern können sie weite Teile Israels treffen. Zudem legt Russland seine schützende Hand über Bashar Assad: Trotz Netanjahus diplomatischer Intervention in Moskau, kündigte die Putin-Regierung eine Lieferung vom Raketenabehrsystem S-300 nach Syrien an. Und mehr noch: Die russische Schiffsflotte wurde vor die syrische Küste verlegt. Das Signal ist eindeutig: Syrien bleibt in der russischen Einflusssphäre. Erinnerungen an den kalten Krieg werden wach. Die Hilflosigkeit der USA und Europas gegenüber dem Krieg in Syrien verstärkt den israelischen Eindruck, im Notfall auf sich alleine gestellt zu sein. Israel verliert dabei auch nie die ungelöste Krise um das iranische Atomprogramm aus dem Blick.
Seit Ende des letzten Libanon-Krieges im Jahr 2006 hat Israels Abschreckung gegenüber Hisbollah funktioniert. Es blieb ruhig an der Grenze im Norden. Die Wiederaufrüstung der Hisbollah auf über 60.000 Raketen wurde genau beobachtet, jedoch nicht als akute Bedrohung gesehen. Denn bisher galt: Auch Hisbollah hat kein Interesse an einer weiteren Konfrontation.
Mit den Zerfallserscheinungen Syriens und der Gefahr, dass neue Waffenklassen, inklusive Massenvernichtungswaffen, in die Hände der Hisbollah geraten könnten, hat sich die Einschätzung eklatant verändert. Zog Israel die rote Linie zunächst bei chemischen Waffen, so wurde die Liste nun um die strategischen Waffensysteme SA-17-Boden-Luftraketen, P-800-Jachont-Anti-Schiff-Raketen und S-300-Luftabwehrraketen erweitert. Diese Systeme würden den israelischen Selbstverteidigungsspielraum in der Luft und über dem Wasser gravierend einschränken. Die S-300-Luftabwehrraketen würden de facto zu einer Flugverbotszone über ganz Israel führen, so hochrangige Verteidigungsexperten. Die Jachont-Raketen könnten zudem die Erdgasförderanlagen vor der israelischen Küste treffen.
Angesichts der Bedrohung durch das iranische Atomprogramm, der latenten Bedrohung durch Hisbollah als iranischer Proxi und der unkalkulierbaren Folgen durch einen möglichen Zusammenbruch Syriens sind diese Einschränkungen der Selbstverteidigungskapazitäten für Israel inakzeptabel. Daher will Israel unter allen Umständen verhindern, dass diese Waffensysteme in die Hände von Hisbollah geraten.
Dass Assad bisher auf die dreimaligen Angriffe auf Raketen-Konvoys und Waffenlager, die Israel zugeschrieben werden, nicht mit Waffengewalt reagiert hat, ist trügerisch. Es kam seither zu einem gezielten Raketenbeschuss nahe des Berg Hermon und zu einem Maschinengewehrangriff auf ein israelisches Militärfahrzeug. Am Montag berichteten libanesische Medien, dass es zu einem Raketenbeschuss auf Israel aus dem Süden Libanons gekommen ist. Es wurde auch berichtet, dass Assad Raketen gegen Israel in Stellung gebracht, und dass Hisbollah sowohl von Iran als auch von Assad grünes Licht bekommen habe, auf dem Golan eine neue Front gegen Israel zu eröffnen. Für weitere Angriffe hat Assad massive Vergeltung angedroht.
Israel wiederum hat Syrien eindeutig vor Vergeltung gewarnt und für diesen Fall den Sturz des Assad-Regimes angekündigt. Dieser Krieg der Worte dient der Abschreckung. Ob diese Abschreckung wirklich funktioniert, werden die kommenden Wochen zeigen.
Israel wird genau beobachten, ob Hisbollah weiterhin Zugang zu diesen strategischen Waffen erhält. Da Hisbollah nun in Syrien operiert, müssen diese Waffen nicht libanesisches Territorium erreichen, um für Hisbollah verfügbar zu sein. Zeigen muss sich auch, ob Russland noch zu überzeugen ist, die S-300-Raketen vorerst nicht nach Syrien zu liefern, um die brenzlige Situation nicht zusätzlich zu verschärfen. Hier kommt auch Europa eine wichtige Rolle zu, das seinerseits alles daran setzen sollte, Russland von seinem Plan abzubringen.
Die akute Kriegsgefahr ist hoch. Auch wenn beide Seiten kein Interesse an einer Eskalation haben, die auf beiden Seiten zu weitreichender Zerstörung und zivilen Opfern führen könnte, so ist die Lage derzeit so gespannt, dass ein kleiner Funken einen Flächenbrand auslösen könnte.
Israel ergreift derweil Vorsorgemaßnahmen: Mindestens zwei Einheiten des Raketenabwehrsystems “Iron Dome” sind seit einigen Wochen im Norden stationiert und in dieser Woche wird eine umfassende, landesweite Zivilschutzübung stattfinden, im Rahmen derer die Notfallsysteme getestet und die Zivilbevölkerung auf Angriffe aus dem Libanon oder Syrien vorbereitet werden sollen.
Auch wenn es für Deutschland und Europa schwierig ist, auf das fortschreitende Drama in Syrien und die Nachbarstaaten Einfluss zu nehmen, so werden beide gut daran tun, sich diese neuen strategischen Risiken für die Sicherheit Israels zu vergegenwärtigen, und alles zu unternehmen, dass es zu keiner weiteren, regionalen Eskalation kommt. Russland von seinem gefährlichen Spiel in der Region abzubringen wäre ein wichtiger Schritt.