Genie in a Water Pipe – über die Dschnun in Marokko

Ein Gastbeitrag von Anja Hoffmann

Sidi Abderrahmane in Casablanca
Sidi Abderrahmane in Casablanca von Ian Haskins Creative Commons Lizenzlogo

Latifa kreischt. Sie geht hinter der angelehnten Tür in Deckung. Kreidebleich, als sei ihr gerade ein Geist erschienen. Was ich da tue, faucht sie mich an.

Ich hatte das Nudelwasser abgegossen. Und verstand so überhaupt nicht, woher die Aufregung.

Die Dschnun habe ich verbrannt, sie erschreckt und verärgert. Uns beide habe ich in Gefahr gebracht, erklärte mir die immer noch aufgebrachte Latifa.

Das war meine erste Begegnung mit den Dschnun.

Die Dschinn (ǧinn, plural), im marokkanischen Dialekt in der Pluralform Dschnun, sind in der islamischen Vorstellung übernatürliche Wesen, die neben den Menschen die Erde bevölkern. Zwei Welten, getrennt und gleichwohl verbunden in räumlicher Parallelität und Gleichzeitigkeit. Gott hat die Menschen aus dem Boden erschaffen, die Dschnun aus Feuer oder, in anderen Übersetzungen, der intensiven Wüstenhitze, so steht es im Koran. „Er hat den Menschen aus trockenem Ton wie Töpferware erschaffen. Und Er hat die Ğinn aus einer unruhigen Feuerflamme erschaffen“ (55:14 und 15).

Latifa war während meines Auslandssemesters an der Al Akhawayn University in Ifrane, Marokko meine Zimmernachbarin. Wie 86% der Marokkaner*innen glaubt Latifa an die Dschnun und lebt in respektvoller Achtung dieser Miterdbewohner. Das laute Aussprechen des Wortes Dschnun, gilt manchen bereits als Provokation, als deren Heraufbeschwörung. So tragen sie bezeichnende Alias, wie Lryāh (die Winde), Wlāy-Allah (Freunde Gottes) oder Shāb lemkān (das Volk, dem die Orte gehören). Menschen können von den Dschnun besessen sein, Orte von ihnen heimgesucht. Wer einen Dschin verärgert, muss mit dessen Vergeltung rechnen – etwa in Form einer brachialen Ohrfeige. Unheilbare und schwere Krankheiten, sowohl psychische als auch physische und hier insbesondere die Schizophrenie, sind, so der Glaube, auf die Rache der Dschnun zurückzuführen.

Es gibt eine Unzahl von Regeln, die das harmonische Zusammenleben zwischen Dschnun und Menschen befördern. Latifa gab mir an diesem Tag eine Einführung: auf keinen Fall dürfte ich auf der Türschwelle sitzen oder schlafen. Besonders in der Nacht seien die Wohnstätten der Dschnun zu meiden. Die Dschnun hielten sich bevorzugt an dunklen, zwielichtigen Orten auf, wie eben Abwasserrohren, Müllhalten, Toiletten, aber auch im öffentlichen Hammam verweilten sie gerne. Verlassene Flüsse, Quellen, Seen, Wälder, einsame, feuchte Landschaften, gehörten ebenfalls zu ihren Wohnstätten. Während des Fastenmonates Ramadan gelten die Dschnun als Gefangene Gottes und sind nicht aktiv. Latifa erklärte mir, dass es im Alltag Schutz böte, wenn ich beim Betreten dieser Orte den Namen Gottes sagen würde.

Entsprechend tönt im McDonalds der Corniche in Casablanca seit einigen Wochen statt der üblichen Hintergrundmusik der Koran aus den Lautsprechern. Es heißt, in der Filiale des Fastfoodkonzerns spuke es. Ungewöhnlich häufig seien Arbeitsgeräte ausgefallen, berichtet die Belegschaft. Ein Angestellter bestätigt, dass die religiöse Tonauswahl ein Versuch sei, die Dschnun auszutreiben. Der McDonalds ist dabei kein Einzelfall im Viertel von Ain Diab in Casablanca. Es halten sich Gerüchte, dass hier in verschiedenen Gebäuden die Dschnun ihr Unwesen treiben. Vermutet wird, dies liege an der Nähe zu Sidi Abderrahmane, jener kleinen Insel, die von Seherinnen und Wahrsagerinnen bewohnt, der Küste Casablancas vorsteht.

In Marokko gibt es zahlreiche spirituelle Praktiken, die mit übernatürlichen Mächten Verbindungen aufbauen und pflegen. Der Glaube an die Dschnun findet wohl in der Gnawa-Musik ihren bekanntesten kulturellen Ausdruck. Die rhythmusbetonte Musik soll bestimmte Dschnun vertreiben und andere hervorrufen. Zahlreiche Texte besingen sie, etwa jene von Hamid el Kasri. Für die Gnawa haben die Dschnun eine Rangordnung, die in den Farben der Gewänder, Räuchersubstanzen, Tanz- und Melodieformen Ausdruck findet. Wie viele Festivalbesucher*innen des jährlichen Gnawa-Festivals in Essaouiera wohl wissen, mit wem sie beim Tanzen hier in Verbindung treten?

Sein Nudelwasser kann man übrigens auch in Marokko gefahrlos in den Abfluss gießen: Es genügt hier Gott anzurufen. So beobachtete ich nach Latifas Einführung immer wieder Freund*innen, wie sie vor der Zugabe von heißem Wasser in den Abfluss „bismi ʾllāhi ʾr-raḥmāni ʾr-raḥīmi“ (Im Namen Gottes, des Gnädigen und Barmherzigen Im Namen Gottes, des Gnädigen und Barmherzigen) raunten. Hilfreich ist es zudem, die Mitbewohner-Dschnun allgemein gütig zu stimmen. Wer in eine neue Wohnung oder ein neues Haus zieht, gießt dafür am besten zunächst Milch in seine Abflüsse. Auch diesen Trick kenne ich dank Latifa.

 

Dr. Anja Hoffmann ist seit 2017 Referentin für Nordafrika und Iran bei der Heinrich-Böll-Stiftung in Berlin. Von 2014 bis 2017 arbeitete sie als Projektkoordinatorin im Stiftungsbüro in Rabat, davor war sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Arbeitsstelle Politik des Vorderen Orients der Freien Universität Berlin beschäftigt. 


Posted

in

,

Tags: