In vielerlei Hinsicht könnte Deutschland sich eine Scheibe davon abschneiden, wieviele Flüchtlinge der Libanon aus Syrien aufnimmt. Über 500.000 Männer, Frauen und Kinder sind registriert, die wirkliche Zahl liegt aber schätzungsweise bei etwa dem Doppelten. Damit machen Syrerinnen und Syrer mittlerweile fast ein Fünftel der Menschen im Libanon aus, und die syrisch-libanesische Grenze bleibt weiterhin offen. Vor diesem Hintergrund wirkt es beschämend, dass Deutschland sich – nach über zwei Jahren des Konfliktes wohlgemerkt – zur Aufnahme von gerademal 5000 Flüchtlingen durchgerungen hat, die jetzt beginnen soll.
Zwar gibt es im Libanon nicht die dramatischen Zustände, die aus dem jordanischen Lager Zaatari gemeldet wurden, in dem im Winter mehrere Kinder erfroren, und das von Überflutung heimgesucht war. Rosig sieht es jedoch auch hier nicht aus: Die meisten Flüchtlinge suchen sich eine Unterkunft dort, wo sie einen Anknüpfungspunkt haben. Viele
kommen erstmal nach Beirut. Die Ärmsten der Armen campieren auf Verkehrsinseln unter den Hochstraßen. Ihre Habe in wenigen Plastiktüten verbringen sie dort den Tag, einige von ihnen stehen bettelnd mitten im dichten Straßenverkehr. Wer noch Erspartes hat, drängt zum Beispiel in die ohnehin überfüllten Palästinenserlager Sabra und Shatila – auf
traurige Weise berühmt geworden durch das Massaker 1982. „Viele palästinensische Bewohner quartieren sich bei Familien und Freunden ein, um mit dem Vermieten an Syrer ein wenig Geld zu machen,“ erklärt mein Kollege, als wir die Lager besuchen. Ein karger Raum, ohne Teppich, ohne alles, kostet 300 Dollar im Monat – das billigste, was man in der teuren Hauptstadt bekommen kann. Mittlerweile sind hier fast 2000 syrische Familien, oft mit bis zu zehn Familienangehörigen, haben sich alleine hier registriert. „Auch hier ist das nicht ohne Folgen geblieben,“ erzählt mein Kollege. „Die Preise für alles sind gestiegen. Eine gute Initiative war, ein Komitee zu gründen, an das man sich wenden kann, wenn man den Eindruck hat, die Forderungen sind überzogen. Vertreter des Komitees gehen dann zu den Vermietern oder Händlern und vermitteln.“
Doch gestiegene Lebenshaltungskosten sind nicht das einzige Problem. „In unserem Dorf, das christlich-muslimisch gemischt ist, sind viele Syrer aus ländlichen Gebieten gelandet,“ erzählt eine Freundin. „Für viele war es das erste Mal, dass sie Frauen in kurzen Röcken gesehen haben. Sie hatten ja auch nichts zu tun und besonders die jungen Männer haben auf dem Dorfplatz abgehangen und uns belästigt. Daraufhin hat der Bürgermeister eine Ausgangssperre für männliche Syrer nach 19 Uhr verhängt. Gut ist das nicht, aber es geht auch nicht an, dass wir uns dort nicht mehr sicher fühlen.“ Derlei nächtliche Ausgangssperren sind mittlerweile an vielen Orten normal geworden.
Der Libanon hat bislang keine Camps eingerichtet und bekommt wenig Flüchtlingshilfe. Wer hier ankommt, ist auf sich selbst gestellt. „Wir haben von Privatleuten ein Stück Land in der Bekaa-Ebene zur Verfügung gestellt bekommen und geplant, wie man dort ein Flüchtlingslager einrichten könnte,“ sagt ein Vertreter der Hilfsorganisation Najda Now. „Wir haben sogar die Zustimmung der örtlichen Verwaltung bekommen, aber natürlich ist wichtig, von Anfang an Wasser- und Abwasserversorgung zu regeln und Infrastruktur zu schaffen. Dafür bräuchten wir 30.000 Dollar, aber niemand will sie uns geben, solange es kein Abkommen auf Regierungsebene gibt.“
Viele der Ankommenden können eigentlich nur von Erspartem leben, denn Syrerinnen und Syrer bekommen keine Arbeitsgenehmigungen. Viele arbeiten schwarz und nehmen in ihrer Not in Kauf, deutlich unter Tarif bezahlt zu werden. Das wiederum hat viele Libanesen ihre Jobs gekostet und erhöht die sozialen Spannungen. „Syrer dienen auch als Sündenböcke. Es gibt viel mehr Armut, seit die Krise ihren Lauf genommen hat, und daher auch viel mehr Straßenkriminalität. Das wird alles auf die Syrer geschoben.
„Du merkst, wie die Feindseligkeit steigt,“ erzählt eine syrische Freundin. „Optisch unterscheiden wir uns nicht von Libanesinnen, deswegen ist es vielleicht keine so offensichtliche Diskriminierung, aber du kriegst immer wieder mit, wie über uns hergezogen wird.“ Ich bekomme davon einen Eindruck, als ich am Nachmittag durch die Stadt fahre. Jemand will zusteigen, der zur syrischen Botschaft will. „Liegt nicht auf meinem Weg,“ blökt der Fahrer durchs Fenster und gibt Gas weiter: „Guck, die Syrer sind sogar zu blöd zu wissen, wo ihre eigene Botschaft ist, sagt er zu mir. Ich: „Aber die Botschaft ist umgezogen.“ Der Fahrer: „Mir doch egal, soll er sehen, wie er hinkommt.“ Als ich einer Kollegin davon erzähle, nickt sie. „Vor uns hat heute ein Auto einen Unfall gebaut. Sofort hat der Fahrer gesagt, das war garantiert ein Syrer, die fahren wie die Bekloppten.“ – was angesichts libanesischer Fahrgewohnheiten schon wirklich eine Kunst wäre.
„Wo lassen sich denn die meisten Flüchtlinge nieder?“ frage ich. „Sie gehen zum Teil in die besonders konservativen Gegenden, weil die Menschen sich dort eher verpflichtet fühlen, anderen zu helfen,“ sagt meine Kollegin. „Aber wo immer es möglich ist. Einige haben sich zum Beispiel in einem ausgedienten Gefängnis in der Bekaa-Ebene eingerichtet.“ Bei einem Besuch im März in Saida weist uns eine islamische Hilfsorganisation in ein Viertel am Rande der Stadt. Hunderte Flüchtlinge wohnen hier in Betonrohbauten, die nur aus den Zwischendecken und Stützpfeilern bestehen. Der eiskalte Wind, der durch das Gebäude pfeift, wird nur von dünnen Spanplatten und Planen gebremst, mit denen sich einzelne Familien kleine Bereiche abgetrennt haben. Matten, Kleidung, Decken liegen herum, aber nichts zum Heizen. Zwischen den Pfeilern flattert auf Wäscheleinen überwiegend winzige Kinderkleidung. Vor dem Haus steht ein Stahlfass, aus dem sich der beißende Gestank verbrannten Mülls erhebt. Das ist die einzige Kochgelegenheit.
„Habt ihr von irgendjemandem Hilfe bekommen?“ fragen wir. „Eine Organisation war so freundlich, uns die Planen zu geben. Und dort drüben dürfen wir uns Wasser holen.“ Eine Frau mit einem Baby auf dem Arm deutet auf einen anderen Rohbau hundert Meter entfernt, von dem gerade ein paar Jungs Eimer herantragen. „Woher kommt ihr? Und wie habt ihr dort gelebt?“ Der Älteste des Lagers zuckt die Schultern: „Wir kommen aus dem Umland von Homs. Dort ist die Situation Anfang des Jahres so schlimm geworden, dass es einfach nicht mehr ging. Ein paar Männer aus unserer Gegend waren hier auf dem Bau beschäftigt, deshalb sind wir hierher genommen. Wir wollen uns nicht beschweren, wir hatten auch zu Hause nicht viel. Hauptsache, wir sind in Sicherheit.“ – „Was machen die Kinder? Gehen sie zur Schule?“ – „Nein, dafür gibt es keinen Platz in den Schulen.“ „Kommt, trinkt Kaffee mit uns“, laden sie uns ein. Die Situation hat ihre Gastfreundschaft nicht geschmälert. Wir lehnen höflich ab. „Dann, wenn wir wieder in Syrien sind!“ Die Frau strahlt.
In Beirut treffe ich eine Journalistin, die gerade aus Kairo gekommen ist. „Syrische Frauen sind in Ägypten geradezu zum Mythos geworden. Selbst unser Hausmeister träumt davon, sich eine zu nehmen, dabei hat er schon zwei Frauen.“ Immer wieder ginge das Gerücht um, dass in dieser oder jener Moschee Syrerinnen vermittelt würden, und wer sich dafür interessiere, habe nicht das Gefühl, etwas Falsches zu machen. Das einzige, was man mutmaßlich bieten können müsse, sei ein Zimmer für die Heirat, es sei spottbillig – während sich viele Ägypter eine Heirat mit einer Ägypterin nicht leisten könnten – und man tue ja auch noch etwas Gutes, in dem man den Frauen aus dem Land helfe. Sie zitiert einen Herrn, der gepriesen habe „Bashar, danke, dass du uns so viele Syrerinnen schickst“ Ganz so offensichtlich ist der Frauenhandel im Libanon nicht. Aber auch hier kursieren viele Geschichten über Eheschließungen aus Not und Familien, die ihre Töchter verkaufen. „Sexuelle Nötigung ist mit diesem Konzept salonfähig gemacht worden,“ sagt mein Kollege Haid Haid. „ Das ist für mich ein neues Phänomen. Ich habe viele Jahre für das UNHCR in Syrien mit irakischen Flüchtlingen gearbeitet. Da gab es auch sexuelle Ausbeutung, aber Prostitution ist verpönt, und in dem man es hier anders bezeichnet, hat man diesen fürchterlichen Umständen zu sozialer Akzeptanz verholfen.“
—
Die Fotos stammen aus dem Besuch von Flüchtlingen in Saida, 6. März 2013 (Bente Scheller)