Unter den zwölf Palästinenserlagern in Syrien hob sich Yarmouk in vielerlei Hinsicht ab. Es gehörte zu den drei Camps, die nicht von der UNRWA sondern von der syrischen Regierung etabliert worden waren, und entwickelte sich weitgehend wie viele der anderen Vorstädte von Damaskus auch. Es wuchs, und bei weiten nicht nur durch palästinensische Zuzüge. Von den rund 800.000 Einwohnern waren letztlich lediglich rund ein Fünftel Palästinenser. Ich erinnere mich an viele Besuche der belebte Einkaufs- und Restaurantstraße in Yarmouk.
Für viele war es eine zweite Heimat geworden, die ihnen erlaubte, sich gleichzeitig als Palästinenser und Syrer zu fühlen. Davon zeugen auch die melancholisch anmutenden Videos einer Gruppe junger Männer, die zwischen den Ruinen des in weiten Teilen zerstörten Camps an einem verstimmten Klavier singen: „Kommt zurück, ihr Vertriebenen, eure Reise dauert schon zu lang“ – eine Hommage an das Zugehörigkeitsgefühl zu Yarmouk.
Palästinenser waren in Syrien besser integriert als in anderen Länder. Anders als im Libanon zum Beispiel gab es nur wenige Positionen, in der Politik oder höheren Ränge in Militär und Sicherheit, die ihnen verwehrt waren. Ansonsten aber genossen sie weitreichende Freiheiten – soweit dies unter der stets engen Kontrolle der syrischen Sicherheitsbehörden möglich war. Wie auch bei den stets betonten pan-arabischen Interessen galt für den Einsatz des Regimes für palästinensische Angelegenheiten immer, dass diese aus seiner Sicht nur unter syrischer Führung vertreten werden sollten. Über Hafez al-Assad heißt es, er habe sich als weitaus bessere Vertreter ihrer gesehen als die Palästinenser selbst. Sowohl in den Jahren der syrischen Intervention im Libanon als auch danach hat das Regime stets durch ihm verbundene Palästinensergruppen versucht, Macht auszuüben.
Der Beginn der syrischen Revolution stürzte daher viele Palästinenser in Yarmouk in ein Dilemma. Die Polarisierung in der syrischen Gesellschaft verschonte auch sie nicht. Einerseits waren die Lebensbedingungen von staatlicher Seite für viele besser als an anderen Orten, andererseits fühlten sich viele durch die gelebte Integration auch dem Aufbegehren verbunden. Gleichzeitig waren sie sich ihrer eigenen Verwundbarkeit bewusst. Wie der syrisch-palästinensische Journalist Nidal Bitari im Journal for Palestine Studies schreibt: „Jeder wusste um die Massaker in Sabra und Shatila in Beirut im September 1982, die massenhaften Ausweisungen staatenloser Palästinenser aus Kuwait während des ersten Golf Krieges, gar nicht zu reden davon, was ihnen nach der US-Invasion in Irak geschehen war.“
Als das syrische Regime 2011 erstmals erlaubte, dass Palästinenser erst anlässlich des Nakba-Tages im Mai 2011, dann ein weiteres Mal im Juni direkt an die israelische Grenze durften, galt vielen das als ein Zeichen, dass das Regime von seinen eigenen Problemen abzulenken versucht. Bei beiden Anlässen wurden Palästinenser durch israelische Soldaten erschossen oder verwundet – während das syrische Regime nicht eingriff, um sie zu schützen oder auch nur humanitär zu versorgen.
Die Eskalation in Yarmouk erfolgte jedoch erst gegen Ende 2012, eine Zeit, in der die Freie Syrische Armee, lange schon erpicht darauf, sich wegen der strategischen geografischen Lage Yarmouks, sich immer aggressiver versuchte, Eintritt zu verschaffen und durch das Luftbombardement des Regimes im Dezember die Gelegenheit dazu sah. Das bedeutete die weitgehende Abriegelung Yarmouks durch regimenahe Palästinensergruppen, die bereits die Versorgung mit Nahrung und medizinischen Gütern massiv beeinträchtigte. Seit Sommer 2013 ist das Camp vollständig abgeriegelt.
Das ist für die Zivilbevölkerung verheerend: über 70 sind mittlerweile verhungert. Umso bewundernswerter ist die Haltung derer, die verbleiben. Medico International hat dies letzte Woche in einem Bericht aus Yarmouk eindringlich dargestellt. Auch wenn es in den letzten Tagen sporadische Hilfslieferungen nach Yarmouk gegeben hat: Sie sind im Wesentlichen ein Zeichen, dass das Regime sich vorbehält, über Leben und Tod zu bestimmen. Es ist kein verhandelter, unbeschränkter Zugang, sondern hängt weiterhin vom Gutdünken des Regimes ab, was und wie viel den Einwohnern zuteil wird.