Ein Gastbeitrag von Alisha Molter
„Ich bin mit 5 Jahren das letzte Mal Rad gefahren“, erzählt mir eine Freundin aus Beirut. Hier ist es besonders der starke Verkehr, der es kaum möglich macht zu radeln, und meine Freundin von der einen oder anderen Tour abhält. Dicht an dicht drängeln sich Autos, hupen wie wild, Taxifahrer schimpfen. Bürgersteige gibt es oft nicht, und Verkehrsregeln sind Auslegungssache. Rechts, links, wieder rechts. Dennoch gibt es in Beirut ein paar Verrückte. Die Fahrradkuriere von Deghri Bike Messenger zum Beispiel, die mit ihrem Zweirad durch die Autoschlangen brettern, um ihre Sendungen in Rekordzeit auszuliefern.
Für arabische Frauen gibt es jedoch oft einen ganz anderen Grund, nicht Rad zufahren, als Verkehr. Oder anders gesagt, einen anderen Verkehr, der Vorfahrt hat. Männliche Freunde aus Syrien erzählen von den mir skurril anmutenden Entjungferungen durch Fahrräder, weswegen Frauen in manchen Teilen Syriens lieber keine Räder bestiegen. Zwar wollen sich meine Freunde eher emanzipiert geben, aber „passieren kann es theoretisch ja schon, oder?“
Wie diese Gerüchte entstehen und sich selbst bestätigen wird mir dann auch klar. Es folgt die Geschichte einer Freundin aus Damaskus, die im zarten Alter von 16 ihre Jungfräulichkeit verlor. Eingriffe zur Wiederherstellung des Jungfernhäutchens sind in Syrien allerdings nur mit der Einwilligung der Eltern möglich. Aus Angst vor ihren konservativen Eltern und den möglichen Folgen behauptete sie daher weinend, heimlich Rad gefahren zu sein.
Das Fahrrad – benutzt zur Unterdrückung der Frau, dient es ihnen selbst auch als Mittel der Befreiung und Selbstbestimmung. Nicht nur in Rafik Schamis neustem Roman „Sophia“ offenbart die in die Jahre gekommene Aida ihrer großen Liebe Karim gleich zu Anfang ihren sehnlichsten Traum: einmal vor den gaffenden Augen und tratschenden Mäulern der Frauen in ihrer Damaszener Nachbarschaft auf und ab zu radeln.
Diesen Traum erfüllte sich auch die Freundin einer Bekannten. Mit Kopftuch und langer Kleidung fuhr sie regelmäßig in ihrer syrischen Heimatsstadt Damaskus Fahrrad. Als sie von einem Polizisten wegen „sittenwidrigen Verhaltens“ ermahnt wurde, fauchte sie ihn nur an: „Zeig mir, wo das Fahrrad im Koran steht!“ und fuhr weiter.
Frech und mutig ist auch die Hauptfigur in Haifaa Al Mansour‘s Saudi-Arabischem Spielfilm „Das Mädchen Wadjda.“ Auch für sie ist das Fahrradfahren ein emanzipatorischer Schritt, eine Revolution. Wadjda‘s größter Wunsch ist es, einmal gegen den Nachbarsjungen Abdullah ein Wettrennen zu fahren. Als dieser anmerkt, dass sie das als Mädchen gar nicht dürfe, erwidert Wadjda nur: „Umso peinlicher für dich, wenn du verlierst!“
Kurz nach der Veröffentlichung des Films im Jahr 2013 wurde das Radfahren in Saudi Arabien für Frauen erlaubt – aber nur, wenn sie in Begleitung eines Mannes im Park im Kreis rumeiern und nun ja nicht, um irgendwo anzukommen. Diese saudische Lesart steht im Kontrast zu den Interpretationen anderer Religionsgelehrter, die, in Anlehnung an kamelreitende Frauen zu Zeiten des Propheten Mohameds argumentieren, dass man ausdrücklich nicht zum Vergnügen Fahrrad fahren dürfe, sondern lediglich, um in den Jihad zu radeln oder einer vergleichbar wichtigen göttlichen oder weltlichen Aufgabe nachzukommen. In Saudi-Arabien bleibt Fahrradfahren als Fortbewegungsmittel jedoch ganz klar Männersache.
Irgendwo, zwischen Jungfernhaut und Selbstbestimmung, Sitte, Tradition und Emanzipierung bahnen sich einige arabische Frauen dennoch ihren Weg.
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Alisha Molter hat einen Master in „International and European Governance“ (WWU Muenster) und „Management des institutions culturelles“ (Sciences Po Lille). Nach einem Praktikum im Nahost-Büro Beirut der Heinrich-Böll-Stiftung unterstützt sie seit Mai 2015 das Büro Beirut als Beraterin.