Von Alisha Molter und Bente Scheller
“Vor einigen Tagen hat sich etwas Unglaubliches ereignet. Es war so unglaublich, so verrückt, ich wusste nicht, was ich darüber schreiben sollte. Also, ich versuchs mal.“ Behutsam tastet sich der Syrien-Aktivist Kenan Rahmani auf seiner Facebookseite an die schier unglaublichen Bilder heran, die seit Beginn der Waffenruhe am 26. Februar aus Syrien zu sehen sind. Die Revolution ist tot, lang lebe die Revolution. #TheRevolutionContinues oder Hallo Bashar, das Volk spricht- noch immer!
Doch gehen wir erst noch einmal zurück.
Syrien, März 2011.
Menschenmassen drängen in verschiedenen Orten Syriens auf die Straßen. “Wir haben nicht länger Angst,“ – „Gott, Syrien und Freiheit“, skandieren sie, ein „Tag der Würde“ wird ausgerufen.
Es folgten fünf Jahre Blutvergießen. Fünf lange Jahre, in denen Machthaber Bashar al-Assad versucht, sein Volk zum Schweigen zu bringen. Fünf Jahre, in denen die Forderungen, dass die Korruption beendet und der Ausnahmezustand aufgehoben werden sollen, sich angesichts der gewaltsamen Antwort rasch zu Forderungen nach dem Sturz Bashar al-Assads und des Regimes mausern. Fünf Jahre, in denen Regimekritiker in den Gefängnissen der Staatssicherheit verschwinden und nicht selten nur ihre Leichen zu den Familien zurückkehren, fünf Jahre, in denen Oppositionelle und Zivilisten in Aleppo, Daraya, Homs oder in den Vororten von Damaskus systematisch ausgehungert und bombardiert werden.
Und doch: Kaum gibt es weniger Luftangriffe sieht man sie wieder ganz deutlich, die friedlichen Demonstranten, die unbeirrt an ihren Forderungen festhalten. Über wenig dürfte sich Assad mehr geärgert haben, entblößen sie doch seine Behauptung, dass es in Syrien außer seinen Kräften lediglich Terroristen gäbe, als Lüge. Je größer international die Furcht vor ISIS wurde, desto weniger hatte auch der Westen daran glauben wollen, dass es zivile Kräfte in Syrien gibt. Und punktuell brachten auch die Extremisten ihren Unmut über die Proteste zum Ausdruck, in Idlib nämlich, als Jabhat al-Nusra letzte Woche eine Anti-Regime-Demo, bei der auch anti-jihadistische Lieder gesungen worden waren, auflöste.
Syrien, März 2016.
Das ist nur eine von über 100 der bunten Demonstrationen, die aufgeblüht sind, kaum dass der Staub der letzten massiven Luftangriffe sich gelegt hatte. Von Aleppo bis Daraa, im besonders hart getroffenen Darayya, im ausgehungerten Modahamiye: überall gehen die Menschen auf die Straße – unbewaffnet. Sie tanzen, stehen Schulter an Schulter und hüpfen ausgelassen. Grün, weiß, schwarz, drei rote Sterne- sie schwenken die Flagge der Revolution. „Nieder mit dem Regime, nieder mit Bashar!“ rufen sie.
Die Bilder erinnern in der Tat an 2011. Doch zwischen ihnen liegen fünf Jahre Gewalt, Zerstörung und Verwüstung, Leichenberge mit über 350.000 Opfern von Aushungern, Massakern und Bombenhagel. Städte wie Homs oder Aleppo wurden dem Erdboden gleich gemacht. Rund 12 Millionen Syrer sind auf der Flucht, 4,6 Millionen davon halten sich mittlerweile außerhalb Syriens auf.
Umso beeindruckender ist, dass die Menschen in Syrien nun, kaum dass die Waffenruhevereinbarungen zwischen den USA und Russland, zu denen sich knapp 100 Rebellengruppen und das Regime bekannt haben, halbwegs tragen, wieder auf die Straßen gehen und nicht etwa Essen, oder ein Ende der Kriegshandlung fordern, sondern nur das Eine wollen: Das Regime stürzen. So steht es auf den Bannern vom 2. März 2016 in dem Damaszener Vorort Jobar, einer der Orte, die 2013 und 2014 mit Giftgas angegriffen wurden, und im südlichen Dara’a. In der Stadt Daraya, die über vier Jahre von dem syrischen Regime aufs Härteste belagert wurde und auf die das Regime allein am Tag vor der Waffenruhe 60 Fassbomben abwarf, sendeten zivilgesellschaftliche Gruppen eine Botschaft: „Assad kann die Waffenruhe brechen, aber nicht den unbezwingbaren Geist des syrischen Volkes.“
„Die Türen der Revolution haben sich erneut geöffnet“, ist zu lesen, oder „Revolution ist eine Idee, und Ideen kann man nicht töten.“ „Im Käfig geborene Vögel halten die, die fliegen, für Kriminelle“ lautet ein anderes Poster.
Die Menschen protestieren gegen das Regime und den ISIS, aber auch gegen die Einmischung ausländischer Kriegsparteien. Andrea Böhm zitiert in ihrem Artikel auf Zeit Online ein Plakat aus Aleppo, das einen Seitenhieb auf die ausländischen Kämpfer ist, die teils als Jihadisten, aber in mindestens ebenso großer Zahl auch auf Regimeseite kämpfen: Syrien sei zur Bananenstaude geworden, alle Affen wollten darauf herumturnen.
Selbst unter widrigsten Bedingungen gibt es noch immer eine lebendige Zivilgesellschaft, die sich politisch, sozial und kulturell an ihren jeweiligen Orten engagiert und die dezentrale Informationskanäle geschaffen hat, um Informationen weitergeben. Ana Press, eine open source Nachrichten-Organisation, sprach im Januar 2016 mit Bewohnern der einstigen Wirtschaftsmetropole Aleppo, die trotz der Luftangriffe in der geteilten Stadt geblieben sind. „Wir werden bleiben, ob es ihnen gefällt oder nicht”, kommentiert eine junge Frau die Frage, warum sie Aleppo nicht verlassen habe. „Ich hätte längst weggehen können, wenn ich weggehen wollen würde“. Ein anderer Anwohner fragt weiter: „Wenn wir gehen, wem werden wir Syrien überlassen? Bashar al Assad etwa?“ er lacht auf. Aber auch ohne diese Bilder war der zivile Widerstand immer da und ist nur weniger sichtbar gewesen und damit von unseren Bildschirmen verschwunden. Von internationalen Medien kaum beachtet, fanden in den fünf Jahren in Syrien regelmäßig Freitagsdemonstrationen statt, die an die Montagsdemos in der ehemaligen DDR erinnern. Unter Motti wie „Wir haben keine Wahl, als Assad und seine Bande zu stürzen“ oder „Revolutionäre von Zabadani – ihr seid die Größten!“ richten sich die Proteste gegen das Regime und gegen das Wegschauen der internationalen Gemeinschaft: „Das Aushungern von Madaya: Eine Schande für die Menschheit!“ oder „Durch Schweigen macht die Welt sich mitschuldig“. Und auch in zahlreichen Videos finden wir ihn, den ausschlaggebenden Satz, der den Willen vieler Syrer zum Ausdruck bringt und den auch fünf Jahre Krieg nicht ausradieren können: “Die Revolution geht weiter, bis das Regime stürzt.“
„Wenn das nächste Mal jemand fragt, wo denn in Syrien die zivile Opposition sei, zeigt ihnen diese Bilder“, heißt es auf dem Facebook-Profil eines Aktivisten. James Sadri von der Syria Campaign schreibt: „An all die selbstgefälligen Abteilungen für Entwicklungshilfe in fernen Ländern, die darüber nachdenken, wie man die Zivilgesellschaft päppeln und fördern könnte: Beendet die Gewalt und dann kümmern die Syrer sich schon um den Rest.“