Herunterhängende Kabel, schmale verwinkelte Gassen, verfallendes Mauerwerk. In Al Jalasoun bei Ramallah, einem der zahlreichen Flüchtlingslager im besetzten Westjordanland, wo sich ein Haus an das andere drängt, dominieren Männer das Straßenbild. Auch ich habe während meiner Besuche im Lager nur wenige Mädchen und Frauen auf der Straße gesehen und mich – und letztendlich einige Bekannte – gefragt, wo sie wohl ihre Zeit verbringen. „Meistens sind sie zuhause“ war die häufigste Antwort, die ich bekam.
Doch heißt dies automatisch, dass Frauen hier weniger zu sagen haben? Und wer fragt sie? Wer fragt die Einwohnerinnen des Camps, ob es den Raum gibt, ihre persönliche Situation in Ruhe anzusprechen? Damit meine ich auch einen physischen Raum, der für alle Frauen zugänglich und öffentlich ist, um Gespräche zu führen, die nur mit bestimmten Menschen geführt werden wollen. Ich stelle mir das schwierig vor, auf den wenigen Quadratkilometern des Lagers, wo nahezu 10.000 Menschen leben.
Um dieser Frage nach Raum auf den Grund zu gehen, haben meine Freunde Alaa Zubaide und Jawdat Sayyeh und ich, Praktikantin der Heinrich-Böll-Stiftung Ramallah, Einwohnerinnen des Camps im Alter von 13 bis 30 Jahren zu einem eintägigen Theaterworkshop eingeladen, den wir gemeinsam und mit Unterstützung der HBS zum Thema „Theater der Unterdrückten“, organisiert haben.
Dabei haben wir die Feststellung von Hannah Arendt zum Ausgangspunkt genommen, dass Privates politisch ist und demnach Diskussionsgegenstand der Öffentlichkeit. Diese These wird praktisch angewandt im „Theater der Unterdrückten“, wie es etwa am Freedom Theater in Jenin praktiziert wird. Es speist sich aus der Logik, eigene Erfahrungen zur Grundlage von Veränderung gesellschaftlicher Verhältnisse zu machen. Zuschauende werden zu Darstellenden, indem sie in das Geschehen auf der Bühne eingreifen und ihren Lösungsvorschlag für das dargestellte Problem testen können.
Einen geeigneten Ort für unseren Workshop fanden wir im Women’s Programs Center, einige hundert Meter hinter dem Eingang zum Camp. Es ist ein langgestreckter zweistöckiger Bau. In der Eingangshalle würdigt ein überdimensioniertes Metallschild die ausländischen Spender der Einrichtung.
Jede der zwölf Mädchen und Frauen, die nun mit uns im Stuhlkreis sitzen, lebt in Al-Jalasoun. Ihre Namen will ich aus Rücksicht auf ihre Privatsphäre nicht nennen.
Während der Planung des Workshops hatten wir viel darüber gesprochen, dass wir auf jeden Fall verhindern wollen, koloniale Strukturen zu reproduzieren und versuchen wollen, dem hier allgegenwärtigen Paternalismus zu entgehen. Ich möchte nicht als weiße Europäerin Frauen aus einem palästinensischen Flüchtlingslager beibringen, wie sie mit Konflikten, und dann noch privaten, umzugehen haben. Daher betonen wir zu Beginn des Workshops, dass es keine starren Strukturen gibt, sondern Ablauf und Methoden flexibel sind.
Nach einer ausführlichen Vorstellungsrunde und dem einstimmigen Beschluss, dass mein Bekannter Alaa gerne als Übersetzer im Raum bleiben könne, sehen wir uns gemeinsam den Kurzfilm „Shadi in the Beautiful Well“ an. Ein palästinensischer Junge tauscht hier seine neuen Turnschuhe gegen seine geliebte Taube, die ihm von anderen Jungen im Lager gestohlen wurde, anstatt sie sich gewaltvoll zurück zu erkämpfen.
Zugegebenermaßen, ich hätte nicht erwartet, dass die Teilnehmerinnen die kurz zuvor angekündigte Flexibilität bereits so kurz nach Beginn des Workshops einfordern würden. Nach meiner anfänglichen Überforderung, spüre ich jedoch, dass dies das Richtige ist. Alaa und ich sind nun diejenigen, die zuhören.
Als nach dem Film die erste praktische Einheit beginnen soll, finden wir uns nicht wie geplant in der pantomimischen Darstellung der Konflikte wider, die vom Film auf die Realität übertragbar sind. Vielmehr wird von den Teilnehmerinnen meine Rolle hinterfragt und mit ihr eine eurozentrische Sichtweise. Diese Diskussion wird von meiner Eingangsfrage nach der Filmvorführung ausgelöst:
„Vor dem Hintergrund des Films, was bedeutet Freiheit in einem weiterem Sinne für jede Einzelne von euch?“
Die kritische Antwort einer älteren Teilnehmerin folgt blitzschnell:
“Frieden einzig und allein in mir selbst zu finden, ist für mich nicht akzeptabel. Hör zu: es gibt keinen Frieden, nur Mauern. Wie kann es Frieden geben, wenn ich in diesem Land nicht frei bin??”
Im Raum, hinter den zugezogenen, mit Blüten bestickten Vorhängen herrscht nun betretenes Schweigen. Von draußen ist der vorher nur im Hintergrund wahrnehmbare Alltagslärm deutlich zu hören. Das Herz pocht mir bis zum Hals. Jetzt habe ich es doch getan und mich in einen bis zum Rand mit Eurozentrismus gefüllten Fettnapf gesetzt. Ich habe mit meiner Frage nämlich die Besatzung beiseitegelassen, wollte mich auf vermeintlich Essentielles beschränken, auf die Freiheit jenseits der Besatzung. Im europäischen Kontext gelingt das ganz großartig. Aber hier? Nicht einmal einen Kilometer Luftlinie entfernt von der israelischen Siedlung Beit El, hier sicher nicht. Ich komme mir wahnsinnig anmaßend vor. Dabei wollte ich eigentlich „nur“ auf tieferliegende Probleme blicken, die die Teilnehmerinnen und ich, als Frauen, vielleicht etwas einfacher bearbeiten, aber seltener thematisieren können. Mir fällt es, mit meinem deutschen Pass und den dazugehörigen Privilegien, leicht die Besatzungsrealität auszublenden und über persönliche Themen wie Sexismuserfahrungen zu sprechen. Für die Frauen, deren Leben geprägt ist von Soldaten, die sie und ihre Familien aus dem Schlaf reißen, von Konfrontationen mit der israelischen Armee und ewigen Checkpoint-Kontrollen, lässt sich nicht so einfach eine Grenze zwischen innerer und äußerer Freiheit ziehen.
Eine junge Frau, die merkt, wie unwohl ich mich fühle, eilt mir zur Hilfe. Sie greift meine Frage auf und stellt sie selbst.
„Aber stell dir vor, Palästina würde befreit. Was müsste sich ändern, damit wir uns wirklich frei fühlten?“
Die Theatermethoden, mit denen wir eigentlich den Workshop durchführen wollten, sind in den Hintergrund gerückt. Stattdessen tauchen wir in eine spannende Diskussion um die Themen ein, die von den eingeladenen Frauen bestimmt werden. Eine dritte Teilnehmerin führt das Argument weiter:
„Ich glaube nicht an Freiheit in einem weiteren Sinne, weil es Traditionen und Gewohnheiten gibt, die die Leute einschränken. Und Frauen und Mädchen sind besonders eingeschränkt.“
„Die Enge des Camps führt zu Enge in den Köpfen!“
wirft eine Schülerin dazwischen. Rundherum zustimmendes Lachen. Für Frauen gibt es in der palästinensischen Gesellschaft, wie in anderen Gesellschaften auch, aber erst recht in der drangvollen Enge der Flüchtlingslager, weit mehr Verhaltensregeln als für Männer. So können sich Frauen nicht einfach in Coffeeshops auf ein Pläuschchen bei Tee und Wasserpfeife treffen. Und nach sechs Uhr abends alleine auf der Straße zu sein, wird auch nicht gerne gesehen. Es ist nicht einfach, als Frau in der palästinensischen Gesellschaft Raum nur für sich selbst zu reklamieren. Die junge Schülerin fügt erklärend hinzu:
„Es hängt von dem Mann ab, mit dem du zusammen bist. Wenn ich einen liberalen Typen hätte, würde ich mit ihm von hier wegziehen.“
Als ich die Teilnehmerinnen weniger später frage, wie sie ihre Privatsphäre beurteilen, antwortet mir eine vierfache Mutter aufgebracht: „Mauer an Mauer, Tür an Tür, Fenster an Fenster“. Das Leben auf beengtem Raum, verhindert nicht nur die physische Ausdehnung öffentlicher Begegnungsräume, sondern schafft ein Netz der sozialen Kontrolle, das abweichendes Verhalten schnell entlarvt und gegebenenfalls sanktioniert.
Moralische Bedenken gibt es in der palästinensischen Gesellschaft auch in Bezug auf Erwerbstätigkeit von Frauen. Eine Teilnehmerin berichtet, ihr Vater würde ihr nicht erlauben, außerhalb des Camps zu arbeiten, aus Sorge, sie könnte an den Checkpoints sexueller Belästigung ausgesetzt sein. Eine junge Frau, die erst vor kurzem in Finanz- und Steuerrecht graduierte, ergänzt resigniert, dass auch sie aufgrund der Vorbehalte ihres Vaters nicht in eine andere Stadt ziehen könne. Starke Rückbesinnung auf Traditionen gibt einigen Menschen Sicherheit, wenn die Umwelt als bedrohlich wahrgenommen wird – aber sie schränkt eben auch ein.
Die Unterdrückungsmechanismen von Patriarchat und Besatzung greifen in Al Jalasoun eng ineinander. Sie zu thematisieren war ein wichtiger Schritt für uns. Noch bedeutender allerdings war die autonome Dynamik, die unser Workshop entfaltete und die zu einer solidarischen Atmosphäre führte. Die Begegnung mit den Mädchen und Frauen aus dem Flüchtlingslager Al Jalasoun war ein einzigartiges Erlebnis für mich. Für die Zukunft würde ich mir aber wünschen, dass solche Workshops nicht von einer Frau aus Europa, sondern von einer Palästinenserin selbst gegeben werden.
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Nina Siebert hat bei der hbs Ramallah ein Praktikum absolviert und studiert in Marburg Friedens-und Konfliktforschung. Sie hat während längerer Aufenthalte im Libanon und Palästina u.a. in palästinensischen Flüchtlingscamps gearbeitet und beschäftigt sich derzeit mit politischer Bildungsarbeit und kritischer Geschlechterforschung.