Warum Milch, Wasser und Benzin in Marokko boykottiert werden

Milch und Wasser einkaufen ist in Marokko dieser Tage gar nicht so einfach. Denn, es ist zu einem Politikum geworden. Seit Ende April werden die beiden marktführenden Produkte, Wasser von Sidi Ali und Milch von Centrale, boykottiert. Dasselbe gilt für den Sprit der marokkanischen Tankstellen-Kette Afriquia.

Angefangen hat alles mit ein paar Facebook-Posts, die dazu aufriefen, die genannten drei Marken einen Monat lang zu boykottieren, um die Produzenten zu zwingen, die Preise für Wasser, Milch und Benzin zu senken. Der Aufruf verbreitete sich wie ein Lauffeuer – ohne prominente Initiatoren, ohne Unterstützung von politischen Parteien und anderen Organisationen. Im ganzen Land ist der Boykott mittlerweile Thema. Zeitungen und Zeitschriften bringen Titelgeschichten. Die sozialen Medien quellen über. Und Politiker und Konzerne reagieren unbeholfen bis patzig.

Bei dem Boykott geht es aber längst nicht nur um hohe Preise. Mit der Kampagne ist ein heterogenes Bündel von enttäuschten Erwartungen, latenter Unzufriedenheit und handfestem Frust verknüpft. Jeder in Marokko kennt Sidi Ali, Centrale und Afriquia. Dasselbe gilt für die Personen und Familien, denen die Unternehmen gehören. Auf sie und auf das System, für das sie stehen, richtet sich die Wut vieler Marokkanerinnen und Marokkaner. Denn ihre schier unermessliche politische und wirtschaftliche Macht spottet den alltäglichen Sorgen, unter denen die Menschen leiden: Steigenden Lebenshaltungskosten, Arbeitslosigkeit und Korruption.

Sinnbild hierfür ist der Besitzer der Afriquia Tankstellen, Aziz Akhannouch. Er ist nicht nur amtierender Landwirtschaftsminister und Vorsitzender der Regierungspartei RNI, sondern auch der reichste Mann Marokkos. Der Boykott hat ihn aber offenbar überrascht – zumindest lassen seine unglücklichen Reaktionen dies vermuten. Zuerst tat er den Boykott als rein virtuelle Kampagne ab, die keinerlei Bedeutung habe. Kurz darauf appellierte er an die Boykotteure, doch woanders spielen zu gehen. Ähnlich ungeschickt äußerte sich ein Direktor des Centrale-Konzerns, der mittlerweile zum Multi Danone gehört. Wer die Centrale-Milch boykottiere, sei ein Vaterlandsverräter, da er die heimische Wirtschaft schwäche. Gleichzeitig brachte Centrale erstaunlich schnell eine neue Verpackungs-Edition für seine Milch auf den Markt, die dem marokkanischen Kulturerbe gewidmet ist. Für die sozialen Medien war das natürlich ein gefundenes Fressen, bestätigten die Aussagen doch nur, was viele ohnehin schon denken: Die da oben scheren sich nicht um uns und unsere Sorgen und Nöte.

Doch neben dem Verdruss über soziale Ungleichheit, hohe Preise und Monopol-ähnliche Wirtschaftsstrukturen, schwingt auch viel Euphorie und Hoffnung in der Boykott-Kampagne mit. Insbesondere junge Leute sehen in ihr eine neue, vielversprechende Aktionsform. Unter ihnen viele, die sich 2011 für die Bewegung 20. Februar engagiert haben, mittlerweile aber von der stagnierenden politischen Transformation enttäuscht sind. In dem Boykott sehen sie eine Möglichkeit, neuen Reformdruck aufzubauen, ohne eine Verhaftung zu riskieren. Noch. Denn letzte Woche hat die Regierung angekündigt, dass sie Boykottaufrufe, denen falsche Informationen zugrunde liegen, zukünftig strafrechtlich verfolgen werde.

Die realen Effekte des Boykotts lassen sich jenseits der Flut an Facebook-Posts nur schwer abschätzen, da bislang weder die betroffenen Unternehmen noch die Supermärkte Zahlen über verkaufte Wasserflaschen, Milchtüten und Tankfüllungen veröffentlicht haben. Messbar sind aber die Kurseinbrüche der Aktien von Afriquia und Centrale-Danone an der Börse in Casablanca.

Wie es weitergeht? Das ist ungewiss. Es dürfte schwer werden, die Kampagne ohne zentrale Koordination und klare Forderungen über einen längeren Zeitraum durchzuhalten. Zumal diese Woche in Marokko der Ramadan beginnt. Gleichzeitig hat der Boykott aber schon jetzt ein Ausmaß angenommen, das Befürworter und Gegner überrascht hat. Die erstaunliche Dynamik, die der Boykottaufruf entwickelt hat, zeigt, wie sehr es unterhalb der Oberfläche gärt. Die Boykott-Kampagne hat der latenten Unzufriedenheit im Land ein Ventil gegeben.


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