Warten ist schlimmer als sterben – die Heldinnen des Alltags in Idlib

Frauen bei einer Demonstration in Idlib. Mit freundlicher Genehmigung von Women Now for Development von Women Now for Development, mit freundlicher Genehmigung Alle Rechte vorbehalten

Von Anna Fleischer

Heute ist ein trauriger Tag für die Menschen in Idlib, die sich gegen das syrische Regime aufgelehnt haben. Denn heute steht Präsident Bashar al Assad das erste Mal seit über sieben Jahren wieder in dem letzten von Rebellen kontrollierten Gebiet. Seine Nachricht ist klar: „Jeder Zentimeter von Syrien wird zurück erobert, jeder einzelne.“ Aber nicht nur heute, sondern an jedem Tag, an dem in Idlib die Bomben fallen, fragen sich die Frauen, wie sie ihre Familien über den Tag bringen sollen – und bombardiert wird Idlib seit sechs Monaten täglich. Können sie es wagen, das Haus zu verlassen? Oder sollen sie lieber zu Hause bleiben und die Kinder trösten? In diesem Umfeld ständiger Gewalt, nach acht Jahren Krieg und inmitten der Zerstörung, die dies physisch aber auch emotional hinterlassen hat, werden Dinge zur Heldentat, die andernorts so alltäglich wären, dass man gar nicht darüber nachdenken würde. Wenn man eine Vorstellung davon haben will, wie ein Frieden in Syrien gelebt werden kann, ist es ein gravierender Fehler, nur – wie es im Moment passiert – auf bewaffnete Akteure zu schauen.

Als 2011 die Umbrüche mit friedlichen Protesten begannen, fand in Idlib eine rege Entwicklung statt. Es entstanden zivilgesellschaftliche Strukturen und lokale Selbstverwaltung, und schnell wurde die eigentlich konservative Provinz zu einem Sinnbild des Widerstandes gegen das Assad-Regime. Anders als Aleppo und Ost-Ghouta behauptet sich Idlib bis zum heutigen Tag gegen die Offensiven des Militärs. Dafür zahlen die Menschen einen hohen Preis: Über eine halbe Million Binnenflüchtlinge sind aus der anderen „Oppositionsgebieten“ hierher vertrieben worden. Die Region wird seit April 2019 heftig vom syrischen und russischen Militär bombardiert.

Während die Berichterstattung über Idlib sich auf das militärische Geschehen konzentriert, auf Terroristen und Milizen, gerät darüber in den Hintergrund, das der überwiegende Anteil derer, die in Idlib leben, und das sind laut den Vereinten Nationen zu über 99%, ZivilistInnen sind. Wie bestreiten diese in einem unter ständigen Bombardements stehenden Gebiet, aus dem es keinen Ausweg gibt, ihren Alltag? Wer unterstellt, es gäbe „keine Guten“ mehr in Syrien, ignoriert die Zehntausenden, vielleicht Hunderttausenden von Frauen und Männern, die sich tagtäglich für ihre Vision eines gerechteren Syriens einsetzen und das zivile Leben aufrechterhalten.

Eine der zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich mit Beginn der Umbrüche gründete, ist Women Now for Development, eine Frauenrechtsorganisation, die von Syrerinnen betrieben wird. Sie bietet unter anderem Bildungskurse, psychosoziale Betreuung und Führungstrainings in Gemeindezentren für Mädchen und Frauen an. Über drei Jahre habe ich diese Frauen bei ihrem Kampf nach mehr Mitsprache und mehr Freiheit unterstützt. Was die Frauen jeden Tag einzelnen Tag im Verborgenen leisten, fehlt in der Diskussion zu Syrien.

Nach dem Giftgasangriff auf Khan Sheikhoun im April 2017 öffnete ich Sprachnachricht um Sprachnachricht meiner Kolleginnen, die die Situation vor Ort beschrieben. Eine der Frauen erzählte, wie ihr Mann, der im einzigen Krankenhaus im nahegelegen Maarat al-Numan arbeitet, die Giftstoffe einfach nicht von denjenigen, um deren Leben er kämpfte, abgewaschen bekam. Egal, was er versuchte, Wasserkübel um Wasserkübel, er bekam sie einfach nicht ab. Als er abends völlig erschöpft heimkam, begannen die Augen seiner Frau und Kinder zu brennen. Weil die Chemikalien an seiner Kleidung und Haut klebten.

Zu dieser Zeit dachten einige der lokal tätigen Organisationen daran, ihre Arbeit einzustellen. Die Frauen vor Ort protestierten: Gerade jetzt können wir unsere Zentren nicht schließen! Egal, wie gefährlich es sein mochte, für sie war klar: „Jede Minute, die wir allein zu Hause sitzen und nichts tun, ist schlimmer als jede Gefahr. Warten ist schlimmer als sterben!“

Diese Heldentaten sind für das tägliche Leben eine absolute Notwendigkeit. Insbesondere für die Kinder, die oftmals nichts kennen außer Krieg. Abir in Idlib schrieb uns im Mai: „Unsere Nachbarschaft wurde gestern um 5 Uhr dreimal getroffen. Wir schlafen auf dem Flur, die Kinder im Badezimmer. Meine Tochter ist anderthalb Jahre alt und der Lärm der Bomben macht ihr Angst. Ich sage ihr immer wieder, dass es ein Spiel ist. Jedes Mal, wenn ein Militärflugzeug vorbeikommt, sage ich ihr … mach dich bereit für den KNALL, sie spielen nur mit uns.“ Die Mütter überspielten ihre Angst, um den Kindern eine Normalität vorzuspielen, die es seit fast zehn Jahren nicht mehr gibt.

Bei der Arbeit mit Frauen ist die Kinderbetreuung besonders wichtig. Die Frauenzentren stellen Kinderbetreuung für die Frauen zur Verfügung, die gerade an Kursen teilnehmen. Sie bieten Ersatz an für die völlig zerstörte Infrastruktur. Zum Beispiel in Sarakeb, einer Stadt in Idlib, die besonders hart vom Krieg getroffen wurde. Kindergärtnerin Bushra sagt: „Als die Bombardierung gestern begann, waren wir im Zentrum und die Kinder waren in der Kindertagesstätte, weit weg von ihren Müttern. Deswegen waren sie doppelt so verängstigt wie sonst. Mehr als 20 Kinder drängten sich um mich, weinten und schrien. Es dauerte zum Glück nicht lange, bis die Mütter kamen und ihr Kinder mitnahmen. Aber für die Minuten, in denen ich mit den Kindern allein war, wollte ich nichts weiter, als so lange Arme zu haben, dass ich sie alle umarmen kann.“

In einer der Feuerpausen dieser letzten Militäroffensive, die nun schon ein halbes Jahr anhält, erreichte mich ein Bild, das mich stutzen ließ. Darauf waren eine Schildkröte und zu einem Peace-Zeichen geformte Hände zu sehen.

Eine der Lehrerinnen im Frauenzentrum hatte eine Atempause genutzt, um mit ihren Kindern nach draußen zu gehen. Die Kinder hatten sich seit Tagen zu Hause versteckt wegen schwerer Bombardements, meist sogar unten ihren kleinen Betten. Als es ein wenig ruhiger wurde, bettelten die Kinder ihre Mutter an, sie wollten das Haus einmal verlassen. Da es das Ende von Ramadan war, und sie Mitleid mit ihren Kindern hatte, gab die Mutter nach. Sie brachte ihre Kinder raus in die Natur. Sie fanden jene Schildkröte und machten das Bild mit den Kinderhänden um zu zeigen, dass es immer noch normales Leben in Idlib gibt. Ihr Kommentar: „Die Kinder sollen soweit irgend möglich ein normales Leben führen. Wir lieben das Leben!“ Wieder so eine kleine Heldentat.

Oft höre ich die Frage: Wie geht es nun weiter in Syrien? Die Frauen haben eine klare Antwort darauf: Es geht eben weiter! Sie wollen sich nicht ergeben, sich nicht beugen. Sie haben sich in den letzten acht Jahren viel Raum erkämpft, gesellschaftlich und politisch. Den wollen sie nicht aufgeben. Sie haben neue Aufgaben angenommen, weil ihre Männer entweder traumatisiert, inhaftiert oder verstorben sind. Sie wollen sich nicht mehr zurückdrängen lassen, besonders gegenüber dem Assad-Regime sind sie hart: Unter Assad leben, nie wieder! Das ist für sie klar, denn genau gegen dieses Regime haben sie sich aufgelehnt, gegen Folter, Unterdrückung und Tyrannei. Um es mit den Worten von Nebal, einer Französisch-Lehrerin im Frauenzentrum, zu sagen: „Der gleiche Krieg, der viele Dinge in uns tötet, tötete auch unsere Angst vor vielen Dingen“.

Wer die alltäglichen Heldentaten der Frauen von Idlib sieht, weiß besser wie es um die Zukunft steht, als nur bei der Betrachtung von Terroristen, Soldaten und Milizen. Trotz aller Widrigkeiten, zeigt sich in den letzten Wochen der unbändige Wille der Menschen in Idlib für eine bessere Zukunft. In den Feuerpausen der russischen Kampfjets gehen sie auf die Straße und fordern Freiheit, Gerechtigkeit und den Sturz von Assad. Dieser rebellische Geist, den ein Jahrzehnt voller Zerstörung nicht brechen konnte, wird auch die Zukunft des Landes prägen. Militärisch mag es dem Regime gelingen, alle Gebiete Syriens wieder unter seine Herrschaft zu zwingen – an ihren Überzeugungen wird er jedoch nichts ändern können.

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Anna Fleischer koordiniert das Syrienprogramm der Heinrich Böll Stiftung im Beiruter Büro. Zuvor war sie in einer lokalen Frauenrechtsorganisation vor allem für Kampagnenarbeit zuständig.


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