Dunkle Wolken

Ein Beitrag von Anna Fleischer

“Das erinnert mich an Damaskus 2011”, sagt mein syrischer Bekannter völlig zerknüllt über seinen Drink gelehnt. „Ich wollte kurz zu Hause raus um mich weniger deprimiert zu fühlen. Aber die dunklen Straßen ohne Lichter, das deprimiert mich noch mehr.“ Ich weiß nicht, was ich antworten soll außer „Inshallah – so Gott will –  wird es irgendwann besser…“ Glauben kann ich daran aber nicht.

Wir haben seit Tagen, in manchen Regionen seit Wochen, wenig Strom. Das private Generatorensystem, das im Libanon fester Teil der Stromversorgung ist und in den Stunden übernimmt, in denen die Versorgung über das Stromnetz ausfällt, verfügt nicht mehr über genug Diesel, um die Ausfälle auszugleichen. Diese Generatoren sind Teil eines korrupten Systems reicher Politiker und Geschäftsmänner, die sich an den Bargeldzahlungen bereichern. Der Staat schafft es ohnehin nie 24 Stunden am Tag Strom bereitzustellen. Jetzt sind es mancherorts nur wenige Stunden pro Tag. Man bezahlt also zwei Rechnungen – die des staatlichen Stromversorgers und die der Generatorenmafia. Eben habe ich die Rechnung wieder in bar an der Haustür bezahlt, sie ist um 100% gestiegen.

Demonstrationen haben Menschen allen Alters auf die Strassen gebracht – auch aus Angst alles zu verlieren.

Dieser Tage verdunkelt die Wolke der Angst und Sorgen die Sommersonne über dem Libanon. Die wirtschaftliche Krise betrifft alle, außer vielleicht die Superreichen, aber die sind für mich sowieso nicht wirklich Teil dieses Landes. Sie haben Zweitpässe, oft Wohnsitze und in jedem Fall Konten außerhalb des Libanons.  Die libanesische Währung befindet sich im freien Fall: Normalerweise war die libanesische Lira an den US Dollar gebunden, was hieß 1,500 Lira für einen Dollar. Gestern habe ich gelesen, dass sie nun bei 10,000 Lira für einen Dollar steht.

In der Corona-Krise ist es fast so, als wäre in zwei Monaten geschehen, was sonst zwei Jahre oder länger gedauert hätte. Allen im Land war zwar klar, dass die Wirtschaft zu kollabieren drohte, aber niemand hatte eine globale Pandemie auf dem Schirm, die diesen Kollaps um ein unendliches beschleunigen würde.

Meinen Freundinnen und Freunde, die sonst kämpferisch und trotzig der schwierigen Lage entgegentreten, sind völlig deprimiert und müde. Viele Familien haben Probleme, medizinische Rechnungen zu begleichen, der Vater eines Freundes starb diese Woche. Sein Sohn hatte vergeblich versucht sein mühselig Erspartes von der Bank abzuheben um für die notwendigen Operationen und Medikamente zu zahlen. Die Banken halten die Einlagen normaler LibanesInnen förmlich als Geiseln. Auch leere Kühlschränke sind immer häufiger im Gespräch. Die Rede ist von mehr als drei Viertel der Bevölkerung, die unter der Armutsgrenze leben werden.

Für mich gab es immer zwei Libanons. Das eine war das Land, in dem die syrischen Flüchtlinge leben, ohne Menschenrechte, fast ohne Einkommen und nur mangelhaftem Zugang zu medizinischer Versorgung und Bildung. Das Leid dieser Menschen kenne ich gut aus meiner Arbeit und weil ich hingeschaut habe. Das tun viele in dem anderen Libanon, den ich kannte nicht so gern. Dieses andere Land hat luxuriöse Strandclubs, teure Restaurants und schicke Bars. In diesem Libanon habe ich auch Menschen getroffen, die zwar nicht völlig zufrieden sind, die aber als Mittelschicht komfortabel lebten. In den letzten Tagen habe ich das Gefühl, dass diese zwei Welten aufeinanderprallen: Die libanesische Mittelschicht zerfällt und verarmt vor unseren Augen.

Heute ist Freitag, das Wochenende steht vor der Tür. Ich wollte mich etwas aufheitern beim Gedanken daran. Dann lese ich die Nachricht: Ein Libanese nahm sich das Leben durch einen Schuss in den Kopf in einer der geschäftigsten Einkaufsstraßen der Stadt. Er trug um seinen Hals sein polizeiliches Führungszeugnis, aus dem hervorgeht, dass er nie gegen das Gesetz verstoßen hat. Darunter steht in großen roten Buchstaben: Ich bin kein Ungläubiger. Es schnürt mir die Kehle zu. Diese Zeile erinnert an ein berühmtes Lied des libanesischen Sängers Ziad Rahbani: „Ich bin kein Ketzer. Aber Hunger ist eine Häresie.“


Anna Fleischer koordiniert das Syrienprogramm der Heinrich Böll Stiftung im Beiruter Büro. Zuvor war sie in einer lokalen Frauenrechtsorganisation vor allem für Kampagnenarbeit zuständig.


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