Ein Beitrag von Lara Kirchner
Der kreativen Bastlergemeinschaft angehörend, ist mir nach meiner Ankunft in Palästina sofort die allgegenwärtige Dichte an Holzpaletten an Ramallahs Straßenrändern aufgefallen. Mal vereinzelt, mal als aufgestapelter Berg. Dies war eine wahre Überraschung, ist doch der Anblick von frei verfügbaren Holzpaletten auf den Straßen deutscher Großstädte zu einer absoluten Rarität geworden. Grund ist die über Jahre gewachsene Nachfrage und Beliebtheit des rechteckigen Holzstücks. Denn was seit den frühen 1960er Jahren zum Zweck des vereinfachten Transports sämtlicher Güter produziert wurde, ist mittlerweile – bei designgerechter Weiterverarbeitung – zum Ausdruck stilbewusster EinrichtungsliebhaberInnen geworden. Die Rede ist von der Europalette. Wer sie umgebaut als Teil des eigenen Interieurs präsentieren kann, gilt als hip, innovativ und umweltbewusst. Upcycling ist en vogue geworden; innerhalb europäischer Breitengrade gehört es mittlerweile zum guten Ton, Ausgedientes im neuen Glanze erscheinen zu lassen. Ob Regale, Tische und sogar Sofa- oder anderweitige Sitzgarnitur: die Europalette setzt kreativen Köpfen keine Grenzen. Alles ist machbar, wiederverwertbar, verwendbar. 80×120 cm Holz in genormter Palettenbauform wurden schnell zum Verkaufsschlager überraschter deutscher Großindustrieller, die sich kopfkratzend fragten, wozu ausgediente, zusammengenagelte Holzbretter noch zu gebrauchen wären. Was früher noch als neuer Trend galt, gehört mittlerweile zum festen Bestandteil diverser Einrichtungshäuser.
So bedarf es für das Auffinden der originalen Europalette in Ramallah zwar ein wenig mehr Zeit, doch muss nicht lange gesucht werden, um anderweitige zusammengenagelte Holzbretter in Palettenform zu finden, die in allen Farben und Größen verfügbar erscheinen. Da ich ohnehin eine nur teilmöblierte Wohnung gemietet hatte, reifte in meinem Kopf sehr schnell der Plan einer eigenen Möbelkreation, als ich die Palettenberge erblickte. Eines Tages machte ich mich auf den Weg, um zu fragen, ob ich einen kleinen Teil des sorgfältig aufgeschichteten Holzberges abschöpfen könne. Meine Frage zog ein paar fragende Blicke nach sich. Was ich denn damit wolle, wurde ich gefragt. „Möbelproduktion“ gab ich offen zu. Vorher ausgemessen, hatte ich die Wunschmaße der Paletten im Kopf und fragte, ob die Holzteile auch zurechtgeschnitten werden könnten. Die Paletten gehörten zu einer Werkstatt, die ihre Ware auf diesen geliefert bekommt. Das sich angrenzende Sägewerk ließ jedoch vermuten, dass mein Wunsch der Maßanpassung wahr werden könnte. Gefragt getan. Im Nu wurde ein Mann beauftragt die gewünschten zehn Paletten vom Berg zu nehmen. Er sprang in seinen Gabelstapler und beförderte die Paletten direkt zur automatischen Stichsäge, um die herum sich vier weitere Männer aufreihten, um die Palletten mit gemeinsamer Muskelkraft durch die Säge schieben zu können. Es dauerte keine zehn Minuten, da hatte ich meine zukünftigen Möbel in Einzelteilen, die nur noch darauf warteten, geschliffen und zusammengeschraubt zu werden. Ich verlud alles ins Auto, bedankte mich, erklärte nochmals mein Vorhaben und ließ die Männer mit fragenden Blicken zurück.
Vermutlich waren es selbige fragende Blicke, die damals auch die deutschen Großindustriellen hatten, als kreative Bastler mit dem Wunsch ankamen, ausgewählte Europaletten in ihren Besitz zu nehmen.
Doch Pionierin bin ich hier mit dem Upcycling ausgedienter Palletten nicht. Manche Läden in Ramallah bieten bereits aus Paletten zusammengeschraubte Gartenmöbel zum Verkauf an. Und manch hippes Café hat ein Regal oder einen kleinen Tisch aus Palletten gezimmert und dem Raum somit einen kleinen individuellen und kreativen Touch verliehen. Doch schaut man in die Privatwohnungen, so liegt der Trend weiterhin bei einheitlichen, ornamentversehenen Sitzgarnituren, raumeinnehmenden dunklen und schweren Holzmöbeln, die mit bunten Stoffen jeglicher Couleur bezogen sind. Die schlichte Holzpalette wirkt im Vergleich wie ein dekorationsloser Leichtbau für Bastleranfänger. Schmucklos statt pompös. Im Gegenzug dafür aber auch günstig anstatt kostspielig. Geschmäcker und Einrichtungskriterien sind bekanntlich verschieden. Aber wer weiß, vielleicht hält die ausgediente Holzpalette über kurz oder lang ja doch noch Einzug in die palästinensischen Privatwohnungen, sodass ich nicht mehr die einzige Person sein werde, die von Ramallahs Palettenbergen für eigenes Interieur großzügig abschöpfen wird. Bis dahin bleibt Ramallah für mich ein palästinensisches Palettenparadies, das in der Freizeit zum kreativen Basteln, Gestalten und Neuerfinden einlädt.