Körperlichkeit in Ägypten – zwischen Tabu und Romantisierung

[youtube]https://www.youtube.com/watch?v=5o4woxWWk_4[/youtube]

[Ritesh Batra: Café Regular, Cairo on Youtube and Vimeo]

Ein Gastbeitrag von Lena El-Laymony

Ein ägyptisches unverheiratetes Paar trifft sich im „Café Regular“ in Kairo. Sie sind schon seit Längerem zusammen und etwa Mitte/Ende 20. Nach einigem Hin und Her erzählt sie ihm, sie habe im Zug Ausländer ganz offen über „Sex und Körper“ reden hören und natürlich habe sie sich nicht wohl gefühlt. Sie habe sich weggesetzt, ergänzt sie, als ihr Freund wütend wird. Sie sehe nicht aus, als würde sie sich in einer solchen Situation wegsetzen, erwidert er. Die Ausländer hätten seine Freundin beeinflusst. Sie entgegnet, wie er denn reagieren würde, wenn sie ihn fragen würde, ob sie Sex haben könnten. Er wird ungehalten und erklärt, dass das kein Thema ist, das im Café besprochen werden sollte. Obwohl beide noch zuhause wohnen – wenn er das Geld für eine eigene Wohnung hätte, wären sie längst verheiratet, betont er – überzeugt sie ihn davon, am nächsten Tag, wenn ihre Eltern unterwegs sind, bei ihr zuhause Sex zu haben. Das Problem, dass sie danach keine Jungfrau mehr ist, sei darüber hinaus nur ihr überlassen. Die Bedingungen seien: Erstens, er solle 50 rote Rosen mitbringen und diese auf dem Bett verteilen und zweitens, sie werde ihr Kopftuch anbehalten. Er findet das zwar albern, willigt schließlich jedoch ein. Sie ist gerührt, dass er das alles für sie machen würde, grinst, und verwirft schließlich die gesamte Idee.

Statistisch gesehen gehören die beiden einer Altersgruppe an, die 2016 etwa 20% der Gesamtbevölkerung entspricht (20–30 Jahre) und bereits der Titel des Kurzfilms „Café Regular“ von Ritesh Batra deutet an, dass das Paar, dass sich der Problematik der angesprochenen Themen konfrontiert sieht, kein Einzelfall ist. Auch als ich den Clip das erste Mal sah, erkannte ich einiges wieder, das ich im Laufe meiner Zeit in Ägypten wahrgenommen und erlebt habe: Ich bekam von meinem Umfeld dort zum Beispiel überraschte und enttäuschte Reaktionen, als ich den sympathischen jungen Mann auf meinem romantischen Facebookprofilbild nicht heiratete. Mir wurde klar, wie meine gleichaltrigen Verwandten und ich zwar gleichzeitig die ersten Beziehungen hatten, jedoch „Beziehung“ sehr unterschiedlich definierten – während z. B. in meinem „deutschen“ Umfeld kaum eine erste Beziehung länger als ein Jahr dauerte, stand bei den ersten Beziehungen in meinem „ägyptischen“ Umfeld immer schon die Hochzeit im Raum. Und ich lernte, dankbar zu sein dafür, dass meine Familie in Ägypten mich nicht genau fragte, welche Erfahrungen eigentlich in Deutschland mit einer (ersten) Beziehung verbunden sind, und, obwohl sie es sich vermutlich vorstellen konnten, weder werteten, noch sich jemals einmischten. Trennungen wurden – alhamdulillah – nicht in der ganzen Familie diskutiert, anders als bei manch anderen.

Erst in persönlichen Gesprächen mit ägyptischen FreundInnen merkte ich, wie stark sich eigentlich die Vorstellungen von Beziehung, Ehe, Sexualität und auch Liebe im Allgemeinen in diesen beiden Gesellschaften, die mich von klein auf prägen, unterscheiden. Ich erinnere mich an Gespräche mit einer Freundin und einem Freund zurück: Sie waren beide jeweils in einer Beziehung und damals vielleicht etwas jünger als das Paar im „Café Regular“. Wir besuchten die Zitadelle in Alexandria: Imposant thront sie über dem Mittelmeer und ihre zahlreichen kleinen Türmchen sind bekannte, wundervoll romantische Rückzugsorte für Paare, die ein bisschen Zeit füreinander haben wollen. Nachdem wir aus Versehen ein knutschendes Pärchen aufgescheucht hatten, drehte sich das Gespräch unwillkürlich um „das Thema“: Unverheiratete lebten meist noch bei ihren Eltern, weshalb die Möglichkeit der Zweisamkeit für diese jungen Paare sehr begrenzt ist. Deshalb nutzen sie Orte wie die verwinkelte Zitadelle, an denen man weitgehend ungestört bleibt. Doch an diesen Orten der Öffentlichkeit hat die Zweisamkeit ein recht schnelles Ende. Auch hier muss Verlangen gezügelt und es kann sich nur begrenzt ausprobiert werden. Ein wenig später fragte ich neugierig und ein wenig mutig nach ihren sexuellen Erfahrungen. Die Antworten waren – verglichen mit dem Durchschnitt meines deutschen Umfelds – ernüchternd: Die Erfahrungen beschränkten sich auf Küsse. Sie erklärten, dass ihre Familien zwar offen genug seien, um eine voreheliche Beziehung zu akzeptieren, doch dass alles, was über Küssen und Händchenhalten hinausgeht, sie gesellschaftlich ins Abseits befördern würde. Außerdem würde das ein schlechtes Licht auf die Familien werfen.

Aus diesem Grund gibt es, so weit ich weiß, viele junge Frauen und Männer, die ihre Beziehungen vor den Familien verheimlichen und/oder heimlich vorehelichen Sex haben. Ich selbst kenne eine Ägypterin persönlich, die sich vor ihrer Hochzeit heimlich das Jungfernhäutchen reparieren ließ. Neu ist für mich jedoch, dass sich in den letzten Jahren unverheiratete ägyptische Freundinnen mit immer persönlicheren intimen Fragen an mich wenden. Eine ganz Besondere sticht dabei immer wieder heraus: „Wie ist Sex überhaupt?“ und „Ist es so wunderschön/[beliebiges positives Attribut], wie ich es mir vorstelle?“ Aus dem fehlenden Wissen und der wohl auch fehlenden Aufklärung lässt sich schließen, dass Themen wie Sex und Sexualität in der ägyptischen Gesellschaft, einschließlich derer mit gebildeten Hintergrund, tabuisiert sind. Zu Gunsten des gesellschaftlichen Ansehens, wahrscheinlich aus Unwissen und vielleicht auch aus Angst verzichten viele Ägypter und besonders Ägypterinnen auf vorehelichen Sex.

Meist bietet nur das Internet die nötigen Informationen. Dabei sind die Suchergebnisse bezüglich Sex und Sexualität sicherlich häufig kostenlose und leicht zugängliche Pornos oder andere contents, die hinsichtlich der enthaltenen Rollenbilder zu hinterfragen wären. So schreibt z.B. der Jungdichter Muhammad el-Messiry aus Alexandria in seiner Ballade „die Schule“ über das Heranwachsen:

و ‫تزيد ‫‫التساؤلت

هو يعني ‫ايه ‫مراهقة

و ‫ليه ‫أنا ‫كبرت

‫و ‫يعني ‫ايه ‫بنت

‫و ‫يعني ‫ايه حب

‫بابا … يعني ‫ايه حب

ولد ‫حب ‫يعني

حب ‫بابا ‫حب ماما

حب ‫تيتا ‫حب ‫جدو

غير كدة ‫متحبش ‫يا ‫حبيبي […]

و ‫أدور ‫على ‫إجابات لأسألتي

عن البنت

و ملقتش ‫قدامي ‫غير النت

‫تعلمت ‫عنها ‫أسوأ ‫النظرات

و الان فهمت

لم ‫قالت ‫لها  ‫أمها ‫هذا

‫لأننا ‫بفضل ‫تربيتنا

لا نرى العالم إلا … سرير

Fragen tauchten auf:

Was bedeutet Jugend

Und warum wuchs ich

Und was bedeutet Mädchen

Und was bedeutet Liebe?

„Papa … was bedeutet Liebe?“

„Sohn, Liebe bedeutet:

Liebe zum Papa und Liebe zur Mama,

Liebe zur Oma und Liebe zum Opa.

Nur so liebt man, mein Liebling. […]

Ich suchte Antworten auf meine Fragen

Über die Mädchen

Und vor mir lag nur das Internet:

Ich fand die schlechtesten Urteile über sie

Und verstand jetzt,

Warum ihre Mutter ihr das gesagt hat.

Dank unserer Erziehung

Sehen wir in der Welt nur … ein Bett.[1]

Dieses sehr menschliche Bedürfnis so stark zu tabuisieren bedeutet jedoch selbstverständlich nicht, dass das Verlangen selbst nicht existiert, wobei die Tabuisierung zugleich zu einer romantischen Mystifizierung desselben führt. Der altbekannte Reiz des Verbotenen verbunden mit der (übertrieben) romantischen Darstellung der Hochzeit und des idealen Ehelebens als Inbegriff der Liebe lässt einen Erwartungsdruck entstehen, der wohl nicht selten in traditionellen Rollenbildern, aber auch Versagensängsten gipfelt. Dennoch fiebern die inzwischen meist zu Endzwanzigern Gewordenen der Hochzeit in ihrem romantischsten Ideal nicht zuletzt deshalb wie verrückt entgegen, weil sie ein bisher tabuisiertes oder gar verbotenes Verlangen endlich legalisiert. Enttäuschung ist vorprogrammiert, wenn das bis dato meist enthaltsame Paar eine romantische Hochzeitsnacht erwartet, doch beide nach einer ganz- (oder gar mehr-)tägigen Feier vor Nervosität und Müdigkeit kläglich daran scheitern, den Ansprüchen, den Bildern und dem Druck gerecht zu werden.

Aus diesem Zusammenspiel von Tabu, Romantisierung, Erwartung und Enttäuschung resultiert ein Kreislauf, der nicht nur privat, sondern auch gesellschaftlich, weitreichende Folgen hat und nicht nur in Ägypten, sondern auch in allen anderen Gemeinschaften: Wird den Menschen die Chance verwehrt, sich auszutauschen und Erfahrungen zu sammeln, folgt daraus Unsicherheit. In diesem Fall ist der einzige Orientierungspunkt das bereits Bekannte – das sind im spezifischen Fall der Themen Liebe, Sex, Sexualität und Ehe einerseits die Tabuisierung und andererseits die meist aus Internet, Werbung und Filmen etc. transportierten Rollenbilder. Dadurch wird bei Problemen und Unwissen das Gespräch umgangen und Enttäuschung und Unzufriedenheit machen sich breit. Das gipfelt wiederum in der Romantisierung dieser Thematik, sowie in der Suche nach weiteren Informationen und Wegen zur (sexuellen) Zufriedenheit – häufig im Internet, anstatt den Kreislauf zu durchbrechen und das Gespräch zu suchen. Somit wird die – meines Erachtens gefährliche – Dichotomie aus Tabuisierung und Romantisierung von (sexuellen) Beziehungen weitergelebt und weitergegeben.

Doch es wäre zu einfach und zu plakativ zu sagen, dies geschähe nur in Ägypten, jedoch in Deutschland (oder anderen Ländern) nicht mehr. Die Deutlichkeit, mit der mir dieses Phänomen durch die Möglichkeit des Vergleichs der beiden Länder vor Augen geführt wurde, zeigt mir erst, dass auch in Deutschland eine – vielleicht subtilere – Tabuisierung und Romantisierung bestimmter Beziehungsformen alltäglich ist: Bei genauerem Hinsehen fällt auch in Deutschland auf, dass das Bild einer romantischen, monogamen, heterosexuellen Beziehung mit Liebe und Verliebtheit bis ans Lebensende einerseits und Unwissen über alle anderen möglichen Formen von Beziehung und Liebe andererseits weiterhin verbreitet sind.

Die Tabuisierung und gleichzeitige Romantisierung des Themenfelds Beziehung, Liebe und Sexualität scheint ein gesamtgesellschaftliches und weltweites Problem zu sein; und es dürfte nicht nur deshalb eines sein, weil „sexuelles Unwissen […] häufig in hypersexuelles Verhalten und Aggressivität übersetzt [wird],“ wie die Sozialwissenschaftlerin Sophie Roznblatt in einem anderen Zusammenhang treffend erklärt. Die Freiheit Erfahrungen zu sammeln, um selbstbestimmt zu entscheiden, welche Arten von Beziehung wir leben wollen, und somit auch zu artikulieren, wie wir unsere Gesellschaft gestalten wollen, ist ein Grundrecht, das wir uns durch die gesellschaftliche Tabuisierung einerseits und die idealisierte Romantisierung unterschiedlicher Formen von Beziehungen andererseits verwehren.

Ritesh Batra und weitere AktivistInnen, wie z.B. die Schweizägypterin Alyaa Gad mit ihrem hocharabischen Aufklärungs-Channel afham.tv (dt. „Ich verstehe“), geben jedenfalls Hoffnung auf eine Veränderung in der ägyptischen Gesellschaft, indem sie dazu aufrufen über das Thema Sex(-ualität) zumindest zu sprechen.

[1]             Als Mitglied der Dichtergruppe al-Lāmawhūb trägt der Dichter seine Gedichte mündlich vor. Eigene Übersetzung aus der Bachelorarbeit zu literarischem Engagement im postrevolutionären Ägypten.

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Lena El-Laymony
Lena El-Laymony

Lena El-Laymony ist Studentin des MA Interkulturelle Germanistik in Göttingen und studierte den BA Islamischer Orient in Bamberg. In Deutschland als Tochter einer Deutschen und eines Ägypters geboren und aufgewachsen, besucht sie jährlich ihre Familie in Ägypten. Sie ist außerdem Gründerin und Vorsitzende des Betna e.V., der sich für Frauen in Ägypten, die von häuslicher Gewalt betroffen sind, einsetzt. Bei der Heinrich Böll Stiftung in Beirut forscht sie im Rahmen ihrer Masterarbeit zum Thema „Identität und Migrationserfahrung bei libanesischen RückkehrerInnen“.